- Dates4 September 2020 - 14 November 2020
- Opening receptionThursday, 3 September 2020, 6:00 pm - 8:00 pm
- Artists
Die Bildgruppe dreht sich um verschiedene transformierte Szenen aus B. Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“ (1972), und hat den Gesamttitel „Der letzte Tango in Thule“. Die Einzeltitel beziehen sich auf den Drehort der Wohnung in der Rue Jules Verne, wo sich der Treffpunkt der beiden Protagonisten Paul und Jeanne befand, in der sie ihre möglichst beziehungslos inszenierte Beziehung durchlebten. Der melancholisch spätexistenzialistische Showdown, der typisch für die Ende-der-Utopie-Stimmung der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ist, wird mit der bildnerischen Umsetzung durch gezielte metaphysisch „chronomagische“ Um-ordnungen zu dem halb mythischen, halb realen Thule in Verbindung gebracht, – nach einer Erwähnung des antiken Geographen Pytheas, der so den nördlichsten Punkt der damals bekannten Welt bezeichnete, wo das Meer schon „geronnen“ sei, also das Eismeer sich ausbreitet. Man vermutet heute, dass es sich bei Thule um ein für die antike Welt in nördlichster Ferne liegendes Grenzland handelt, möglicherweise Island, Grönland, die nördlichen schottischen Inseln, oder auch Nordskandinavien. Die Uneindeutigkeit der Zuordnungen, die hier zur Quelle mythischen Erzählens wird, ist bis heute wirksam, und heute noch weniger an die Kenntnis eines Ortes und eines bestimmten Ereignisses gebunden als je zuvor.
Innerhalb der sich selbst auseinanderreissenden Geschichte einer Begegnung, in der alles oder nichts von einer scheinbar gezielt planlosen Schicksalsmacht abhängig gemacht wird, sollte es darauf ankommen, dass Paul und Jeanne das Geschehen durch keinen bewussten Eingriff von seiner im Voraus als blind und vollendet gedachten Notwendigkeit abbringen. Jeder Steuerungsversuch, etwa durch Informationsaustausch über die eigene Identität und Geschichte würde die Ursprünglichkeit, Wahrheit, Echtheit und Wirklichkeit der Vorgänge in Frage stellen und damit zerstören. Im Sinn einer solchen, seit Rousseau für verbindlich gehaltenen Zivilisationskritik wird das Verbot ausgesprochen, die Anonymität der Begegnung durch deren schlafwandlerische Demotivierung und durch die Anerkennung ihres übergeordneten, magisch selbstbezüglichen Rahmens einen urtümlichen Wert „zurück“ zu geben. Die archaische Kompaktheit der angeblich fundamentalen Regungen, ihre Sprachlosigkeit als Garantie für die richtige Witterung einer untergründig naturhaft wirksamen und umfassenden Macht werden dann allerdings allein durch die fortschreitende Verwicklung der konkreten Umstände, ohne welche die Situation und Geschichte nicht funktionieren kann, in ihr Gegenteil verkehrt: Aus dem idealisierten Selbstbezug einer namen- und geschichtslosen Ursprünglichkeit wird eine zunehmend zynische Selbstdistanzierung, die vor allem von dem älteren Paul ausgeht. In dieser selbstdestruktiv erzwungenen Distanz kollabieren schließlich gerade die unausgesprochenen Anteile der Begegnung, d.h. ihre nicht-idealen, realen Momente, bis sich der unlebbare Faden in der surrealen Abgeschiedenheit der verfahrenen Wege im herbstlichen Paris wieder wie selbstverständlich verliert: vor der als unerreichbar erkannten Küstenzone eines Thule genannten, absoluten Grenzlandes.
Michael Kunze, Berlin, Augsut 2020