Dominik Sittig
Les Familles et les Plages
Press Release
Les Familles et les Plages
Les Familles et les Plages

Auf den Gemälden der Ausstellung geraten für mich zwei Vergangenheiten – zwei Vorstellungen, zwei Klischees – ineinander und mischen sich: die Badeurlaube der 1970er Jahre, wie ich sie von Fotos und Filmen her kenne, und die Pleinairmalerei des 19. Jahrhunderts. Besonders die Bilder von Eugène Boudin und Claude Monet, die sie an den Stränden der Normandie gemalt haben, kommen mir immer wieder in den Sinn, als würden meine Gemälde von Geistererscheinungen heimgesucht. Auch wenn die Insel Sardinien natürlich kaum etwas mit der Küste am Ärmelkanal verbindet, und ich meine Motive auch nicht vor Ort aufgespürt habe, wie es die Impressionisten zu ihrer Zeit konnten.

Die kleinen gemalten Szenen, in denen die Badenden das Meer und die Sonne genießen, gehen auf einzelne stills, auf Standbilder zurück: Sekundenbruchteile, die aus alten, digitalisierten Super-8-Filmen herausgeschnitten sind. Mitte der 1970er Jahre hatten meine Großeltern, die Eltern meiner Mutter, wie viele andere auch, eine dieser Kameras für die Familie angeschafft. Die Filme wurden zu Geburtstagen und Festen gezeigt, oft einfach aus dem Moment heraus, am Abend, weil alle Lust darauf hatten. Dann wurden der Projektor und die Leinwand geholt. Dabei waren die Großeltern – und alle, die die Kamera sonst in die Hand bekamen – überhaupt keine fanatischen Filmer, weshalb Aufnahmen nur gelegentlich und meist ohne Plan gemacht wurden. Chronologie oder Vollständigkeit stellten für sie sowieso keine Maßstäbe dar: wichtiger war es, das Miteinander zu leben, anstatt die Situationen und Begebenheiten – für wen auch? – festzuhalten. Trotzdem hatten alle beim Filmeschauen ihren Spaß, und wie in einem Chorgesang aus dem Stegreif, dirigiert nur durch das Auftauchen der vertrauten Gesichter und Figuren vorn auf der Leinwand, wurden die Namen gerufen, einzeln oder zusammen, und es wurde gemeinsam gelacht und sich erinnert. Als Kind war das wie eine Feier der eigenen familialen Vorzeit, auch wenn viele der Filme aus einer Zeit stammten, zu der man selbst schon auf der Welt war; und obwohl das, was auf der Leinwand vor einem – ohne Ton, nur zum Geräusch des Apparats und der sich drehenden Spulen – ablief, im Grunde völlig banal war, ließ es in meiner Vorstellung vielleicht etwas von einem Bewusstsein entstehen, vom Leben der Erwachsenen um mich herum, einem Leben, von dem man selbst auch Teil war. Zusammen mit den kurzen, eingestreuten, oft komischen Erzählungen und den Anmerkungen für die, die nicht dabei gewesen waren, scheinen mir diese Filmvorführungen heute – bruchstückhaft, lückenhaft, vielstimmig und durcheinander wie sie waren (wie ich sie erinnere) – beinah ein Modell zu sein: für einen Zugang zur Geschichte, der einfühlend und persönlich ist, sich aber, gespiegelt in den Bereich der Kunst, nicht im Privaten und nicht in dieser einen Familie, in der man eben aufgewachsen ist, erschöpft.

Auf den Bildern von Boudin sind es noch die Angehörigen der Aristokratie und des Großbürgertums, die sich an den Stränden der Seebäder von Trouville und Deauville aus gesellschaftlichem Anlass treffen. Von ihnen aus lässt sich aber die Entwicklung nachvollziehen, die bis in die Gegenwart hinein und zum heutigen Massentourismus führt. Die eigentlich triviale und gleichzeitig doch schreckliche Verfügbarkeit der Orte, die das Internet heute bietet, lassen den Tourismus vergangener Epochen im Rückblick fast naiv und unschuldig erscheinen – was, wenn man sich die Zusammenhänge vergegenwärtigt, selbstverständlich nicht zutrifft. Aber vielleicht war das Reisen und das Urlaubmachen früher offener, riskanter, improvisierter und weniger konsumistisch. In den 1960er Jahren fuhren meine Großeltern mit ihren sieben Kindern und Freunden auch auf gut Glück nach Italien und suchten sich die Zeltplätze vor Ort. Oder sie fuhren einfach weiter, wenn der ausgesuchte gar nicht den knappen Angaben entsprach, die man dazu gelesen hatte. So gelangten sie – durch den Hinweis von anderen Campern, die wie sie unterwegs waren – 1969 das erste Mal nach Santa Maria di Castellabate, südlich von Neapel und Salerno. Später, in den 1970er Jahren waren sie über Pfingsten manchmal vorgefahren, nach Sardinien oder Korsika, aber auch in Richtung Norden, nach Norwegen, Finnland, zusammen mit einem Freund oder befreundeten Ehepaar, auf Erkundungstour, ohne sich auf die Reisebüros zu verlassen, um Zeltplätze oder Feriensiedlungen für den Sommerurlaub zu finden, die in den üblichen Katalogen nicht verzeichnet waren oder nur unzureichend beschrieben. Zu Beginn der großen Ferien machten sie sich dann mit allen gemeinsam auf den Weg: mit langjährigen Freunden und deren Familien, mit manchen ihrer Geschwister und deren Partnern und Kindern, und natürlich mit ihren eigenen Kindern und deren besten Freundinnen und Freunden (oder schon richtigen, also festen, die sie mitnehmen durften); aber auch mit Arbeitskolleginnen und -kollegen und natürlich deren Familien: in Kolonne zu sechs, sieben, acht, neun Autos, auf den Autobahnen, manchmal zwei, drei Tage lang. Die Rastplätze, Zwischenstationen, das Übernachten nördlich von Rom, die Hitze und das lange Warten aufs Fährschiff im Hafen: wie sie die Räder des kleinen Anhängers abschraubten, um ihn von hinten in den VW-Bus zu schieben; das Gepäck, das vorher auf die andern Autos verteilt werden musste; der Kran, der die Fahrzeuge dann vom Kai auf das Deck hob …

Beim Anschauen dieser alten, grobkörnigen, verwackelten und immer ein bisschen unscharfen Super-8-Filme spür ich es (wie etwas Körperliches, das verschwindet): dass es diese Form des Reisens und diese Art Urlaub in einer Zeit, in der – über Google oder Instagram – die Welt und ihre Bilder längst abrufbar sind, so nicht mehr gibt.

For me, two pasts – two mental images, two cliches – interweave and combine in the pictures in this exhibition: 1970s beach holidays, recalled from photographs and films, alongside nineteenth-century plein air paintings. The canvases that specifically come to mind again and again are those of Eugène Boudin and Claude Monet painted on the beaches of Normandy. It is as if my paintings are haunted by apparitions, even though the island of Sardinia bears little resemblance to the coast of the English Channel and, unlike the Impressionists in their own era, I did not paint my subjects from life.

The little painted scenes of bathers enjoying the sea and the sunshine are based on individual stills: fractions of a second sliced out of old digitalised Super-8 films. Like many people, my grandparents – the parents of my mother – purchased one of these cameras in the mid-70s. The films were shown at birthday parties and on special occasions, often just because at some point in the evening everyone was up for watching them. Someone would fetch the projector and the screen. My grandparents – or whoever had got hold of the camera – weren’t particularly passionate filmmakers and they filmed things sporadically and without any particular plan. They were not trying to achieve a certain chronology or completeness. What mattered was experiencing that togetherness, rather than trying to capture – and for whom, anyway? – situations or events. Nevertheless, everyone enjoyed watching the films and, like an impromptu choir conducted by the appearance of familiar faces and characters on the screen, we would call out names, individually or in chorus as we laughed and reminisced. As a child, it felt like the celebration of my family’s own prehistory, even though a lot of the films were made after I was born. And even though what I saw on screen was essentially banal – without sound, accompanied only by the noise of the projector with its spinning reels – something like a consciousness formed in my perception of the life of the adults around me, a life that I was also part of. Sprinkled with what were often funny stories and explanatory notes for anyone who hadn’t been there, these film screenings – as fragmented, patchy, polyphonic and confused as they were (as I remember them) – strike me today almost as a model for a way of accessing history that is empathetic and personal, and which, translated into art, does not have to be limited to one’s private sphere and to the family that one has grown up in.

In Boudin’s paintings it is members of the aristocracy and the upper middle-classes who meet and socialise on the beaches of the resorts of Trouville and Deauville. One can see the beginnings of a development that would lead to the mass tourism of today. The essentially trivial and simultaneously appalling accessibility to places that the Internet now offers us makes the tourism of epochs past seem in retrospect almost naïve and innocent – which is, of course, not true when one considers the parallels. Or perhaps travel and holidaymaking did used to be more open, riskier, more improvised, less consumerist. In the 1960s, my grandparents would just set off to Italy with their seven children and their friends in tow and would look for camp sites once they got there. And if the one they had found didn’t live up to the brief particulars they’d read about it, they just moved on. This was how – based on a tip from some other cam¬pers travelling like them – they ended up, in 1969, in Santa Maria di Castellabate, south of Naples and Salerno, for the first time. Later, during the 1970s, they would head off over the Whitsun holidays to Sardinia or Corsica, but also sometimes up north to Norway, Finland, with a friend or a married couple they were friendly with, exploring without relying on travel agents to find camp sites or resorts not shown in the usual holiday brochures or that were only briefly mentioned. At the start of longer holidays, they would set off with everyone: with long-term friends and their families, some of their siblings and their partners and children too, and of course with their own children and their closest friends (or their very close friends, that is to say, the boyfriends or girlfriends they were allowed to bring with them). But also with work colleagues and of course their families: in columns of six, seven, eight, nine cars on the motorway, sometimes for two or three days. The service stations and lay-bys, the stops, the overnight stays north of Rome, the heat and the long waits in the port for ferries. The way they unscrewed the wheels of their little trailer so that they could push it into the back of their VW Bus. The luggage that had to be distributed between the other cars in advance. The crane that lifted those cars from the quay to the ship’s deck…

Watching these old, grainy, jerky and always slightly out-of-focus Super-8 films, I can feel it like something physical that disappears. Feel that this form of travel and this type of holiday no longer exist in a time in which – via Google or Instagram – the world and its images have long since become downloadable.

Translation: Ben Fergusson

Dominik Sittig, October 2020

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