Review

So geht umwerfende Malerei

by Martin Bieri
Der Bund
29 March 2021
Deutsch

Bilder sind überall. Weshalb soll man noch mehr davon machen? Und erst noch von Hand? Darauf antwortet die grossartige Ausstellung «Lose Enden» in der Kunsthalle Bern.

Mobiltelefone mit Linsen, riesige Bilderspeicher in Hand- oder Hosentaschen, gigantische Galerien im digitalen Raum: Die zeitgenössischen Kommunikationsmittel haben ein Spiegelkabinett von Bilderwelten erzeugt, wie es das noch nicht gegeben hat. Natürlich, Bilderfluten kommen und gehen wie die Gezeiten. Als um 1600 in Italien nordeuropäische Landschaften Mode waren, verliessen ganze Schiffsladungen mit Leinwänden die Häfen der Niederlande, die zu dieser Zeit eine einzige Bilderfabrik geworden zu sein schien. Doch noch nie war es so leicht wie heute, Bilder in solchen Mengen herzustellen, dass jedes neue eigentlich von der Frage begleitet sein müsste, warum es das noch braucht. Und da gibt es noch immer Leute, die sie von Hand herstellen.

Nun kann man der Malerei nicht vorwerfen, sie sei unreflektiert, im Gegenteil. Sie wurde kunsttheoretisch schon so oft und mit solcher Vehemenz problematisiert, dass sie jedes Mal aufs Neue an Erschöpfung hätte sterben müssen, wäre sie nicht schon beim letzten Mal totgesagt worden. «Und doch», schreibt die Kunsthalle zu ihrer aktuellen Ausstellung «Lose Enden», «wird immer wieder ein Bild gemalt, das noch nie gesehen wurde. Wo alles zugestrichen wurde, findet sich in den Zwischenräumen plötzlich wieder eine weitere Drehung, ohne welche die Geschichte unvollständig geblieben wäre».

In den Wald gesogen

Vielleicht lassen sich diese Öffnungen leichter von Künstlerinnen und Künstlern finden, die – mit Ausnahme von Hans Stalder – «uneigentliche Maler» sind, also solche, die auch oder zuerst anderes machen. Dreizehn von ihnen hat die Kunsthalle aktuell eingeladen, sie stammen aus der Schweiz, Deutschland, den USA, Kanada und Polen.

Das Berner Duo Annina Matter und Urs Zahn begrüsst das Publikum mit einer Art hyperinformiertem Dilettantismus. Wie mit Fingerfarben malen sie simpel nach Vorzeichnung und schaffen mit dem Bild einer Palette doch ein überzeugendes Selbstporträt als Künstler ohne Künstler. Neben einem ihrer Bilder haben sie einen Handgriff an die Wand geschraubt, damit sich das Publikum dran festhalte. Warum es einen umhauen sollte, lassen Matter und Zahn offen. «Rite cum laude», mit Lob genügend, nennen sie die Stütze und hängen die Latte damit genau so hoch, dass man weiss: könnte gut werden.

Doch es wird nicht gut. Es wird grossartig. Schon die scheinbar unansehnlichen, braunen Oberflächen von Vera Palme ziehen einen so in den Bann, als würde man in einen Wald hineingesogen. Georgia Gardner Gray malt flirrende Körper, Szenen der Unruhe in Neon und Pastell. Julia Haller baut Bildkörper, in denen Zeichnung nicht von Malerei zu unterscheiden ist. Und Mitchell Anderson wuchtet mit monumentalen Wachsbildern von Disney inspirierte, scheinreligiöse Kunst, wie man sie lange nicht gesehen hat, in die Kunsthalle.

Jedes dieser Werke, auch die hier ungenannten, zeigen eine so überzeugende Antwort auf die Frage «Warum dieses Bild?», dass sie sich beim Betrachten auflöst wie einst die Kategorien von richtigem und falschem Malen. Nach traditionellen Massstäben komplett falsch, im Resultat aber poetisch schön sind die fast weissen Bilder «Bye by» von Paul Czerlitzki. Er malt, indem er die neuen, in Plastik eingefassten Leinwände nicht auspackt, sondern die Farbe durch die Lüftungsschlitze im Plastik aufträgt. Die Hand des Urhebers ist hier auf ein Minimum reduziert, und doch erzeugt Czerlitzki ein Gefühl von Individualität, von Präsenz in Abwesenheit. Einen Augenblick «verewigen» nannte man das einmal, und zwar nicht denjenigen, den das Gemälde vielleicht abbildet, sondern den, in dem es entstanden ist.

Melancholie in den Ferien

Darin liegt der Zauber der Malerei – und ihre Melancholie. Das machen die Grossformate von Dominik Sittig im grossen Saal deutlich spürbar. Sittig ist auch einer, der sich theoretisch den Kopf zerbrochen hat über das Malen. Jetzt zeigt er Filmstills, Familienszenen von scheinbar unbeschwerten Ferien, doch die Blicke in die und an der Kamera vorbei erzählen von nichts anderem als Vergänglichkeit, die wir, das Bild betrachtend, in diesem Moment doch zu überwinden hoffen.

Es ist ein raffinierter Kniff der Kuratorinnen Valérie Knoll und Julia Künzi, zu Sittigs getragenen Ernsthaftigkeiten Bilder eines Berner Malers zu gesellen, dessen Hintersinn den ganzen Saal erleuchtet. Hans Stalder hat mit der Serie «Der Tisch» Höhepunkte in eine an Höhepunkten reiche Ausstellung gehängt. Mit der Sicherheit jahrelangen Schaffens – Stalder ist mit 64 Jahren der älteste Ausstellende – komponiert er verblüffend frische Szenen einer Vergangenheit, die erst gerade anzubrechen scheint. Hüte, Handys und Zigaretten, Lippenstifte, Pinsel und Krähen in einem Bild. Stellt sich einer so die Frage: «Warum malen»? Nein. Warum nicht? Weil ers kann.

«Was kaufen?», wird sich allerdings die dafür zuständige Stiftung Kunsthalle nach dieser Ausstellung fragen müssen. Sie soll alle nehmen. Jedes einzelne Bild möchte man behalten. Dann wird man sich wieder über die Markthörigkeit der Malerei aufregen und sie ein für alle Mal für gescheitert erklären können. Sodass dann wieder neue Gemälde… und so weiter. Wenn sie nur so gut sind wie diese hier.